Sehr geehrte Damen und Herren,
Wenn man Friedel Lienert fragt, wann er mit Zeichnen und Malen
begonnen habe, so lautet seine Antwort, dass er sich kaum noch an
Zeiten erinnern könne, in denen er nicht mit Stiften oder Pinseln
hantierte. Die Freude an der Gestaltung von Bildern und Objekten
begleitet ihn durch alle Stationen seines Lebens. So wie andere
Gedichte schreiben, teilt Friedel Lienert seine Erlebnisse und Empfindungen
in Zeichnungen und Gemälden mit. Das Talent, sich mit den Mitteln
der bildenden Kunst auszudrücken, ist ihm offenbar angeboren.
Doch wie bei vielen kreativ begabten Menschen wurde die Begabung
nicht für eine künstlerische Laufbahn genutzt. Ein solider
Beruf wurde der ungesicherten Existenz des freischaffenden Künstlers
vorgezogen. Zeichnen, Malen und Gestalten bestimmten jedoch seine
Freizeit, wodurch im Laufe der Jahrzehnte ein beträchtliches
Werk zustande gekommen ist.
Nach der Vertreibung aus der böhmischen Heimat und nach den
Jahren seiner Ausbildung zum Physiotherapeuten, fand Friedel Lienert
in Rüsselsheim Arbeit und ein neues Zuhause. 1958 schloss er
sich dem Rüsselsheimer Malkasten an, wo er unter Gleichgesinnten
Anregung und Ermunterung für seine kreative Arbeit fand. Welche
Rolle die Künstlergruppe des "Malkasten" in Friedel
Lienerts Biografie spielt, kann nur er selbst ermessen, doch wie
sehr die Gruppe mit seinem Leben verbunden ist, zeigt sich seit
dem letzten Umzug des "Malkasten" ins ehemalige Landrat-Hardt
Heim. Denn dort wo sich heute der Atelierraum im Dachgeschoss befindet,
lag einst das Kämmerchen, das Friedel Lienerts erstes Domizil
in Rüsselsheim war.
Die Gemälde dieser Ausstellung sind nach Themen gruppiert:
Stilleben und Akte, Landschaften und eine Werkgruppe mit symbolistischen
Themen. Hinzu kommen einige Zeichnungen und Reliefs aus Metall.
Die Malerei Friedel Lienerts leuchtet zumeist in einer hellen und
klaren Farbigkeit. Erdfarben und Trübungen durch Graubeimischungen
vermeidet er, denn er muss, wie er selber sagt, "die Farbe
genießen" können. Die meisten seiner Arbeiten sind
gegenständlich. Bei ihrem Anblick fühlt man sich an den
Strang der Malerei erinnert, der vom Symbolismus Edvard Munchs über
die eigenständige Formulierung des Kubismus durch Robert Delaunay
und dessen deutsche Nachfolger August Macke und Franz Marc in die
Gegenwart hineinreicht. Die genannten Künstler sind einer lichten
Malerei der reinen Farbe verpflichtet, wie sie aus dem Impressionismus
und Pointillismus herrührt und können in dieser Hinsicht
durchaus als Vorbilder für Friedel Lienert gelten. Vor allem
die beiden Gemälde "Krieg und Frieden" (1985) und
"Kunst im Wandel" (1994) kommen in ihrem Aufbau und ihrer
Farbigkeit nahe an Delaunay heran, dessen berühmtes Gemälde
"Die Mannschaft von Cardiff" (1912113) das zentrale Motiv
des Kreises auf diesen bei den Bildern beeinflusst zu haben scheint.
Die Kreisform evoziert Bewegung und durch sie stellt Lienert einmal
den Wechsel vom Krieg zum Frieden dar, das andre Mal die voranschreitende
Zeit mit ihren unterschiedlichen künstlerischen Epochen. Auch
die Landschaften, die während und nach mehreren Reisen in die
Provence entstanden sind, atmen den Geist dieser "sanften"
Kubisten, deren Stil von Guillaume Apollinaire wegen seines musikalisch-poetischen
Charakters nach dem mythischen Sänger Orpheus als "Orphismus"
bezeichnet wurde.
Ein anderer Bezug zur Kunstgeschichte scheint in dem Gemälde
"Die drei Frauen" (1990) hergestellt zu sein. Es erinnert
an Edvard Munchs, sowohl in der Malerei, wie auch im Linolschnitt
formulierte Darstellung der drei Lebensalter der Frau. Dieses traditionsreiche
Sujet verbindet sich bei Munch mehrfach mit dem Thema der Eifersucht.
Lienerts Bild scheint so etwas wie Rivalität unter Frauen anzudeuten,
ein Motiv, das sowohl bei Munch, wie auch in der alten Bildtradition
des Parisurteils mit der Darstellung von drei Frauen verbunden ist.
Manchmal, wie bei dem Bild" Späte Stunde im Atelier"
(1970), ist in den Werken Lienerts auch die Nähe zu Dieter
Ritzert zu bemerken, dessen Atelier in der alten Kantschule eine
Zeit lang neben dem Malkastenatelier lag. Dieses Werk, das mittels
der blauvioletten Farbe die nächtliche Stimmung im Atelier
gut wiedergibt, ist zugleich ein Beispiel für die porträtistische
Treffsicherheit Friedel Lienerts, denn Eingeweihte erkennen in der
vorderen, schlummernden Figur unschwer den Malerkollegen Heinz Langer.
Wie wir sehen ist Lienerts malerisches Werk gekennzeichnet durch
einen Wechsel der Stilmittel. Motiv- und Themenwahl scheinen bestimmt
von den augenblicklich vorherrschenden Gefühlen und Stimmungen.
Handelt es sich um Reflexionen oder Kommentare zu politischen, religiösen
oder philosophischen Fragen, so wählt er eher eine am Symbolismus
orientierte Bildsprache. Heitere Sujets wie Stilleben oder Landschaften
orientieren sich dagegen am Impressionismus oder dem schon genannten
Orphismus.
In den Neunziger Jahren entdeckte Friedel Lienert die Materialcollage,
mit welcher er seinem Werk ein weiteres. Spektrum hinzufügte.
Metallene Fundstücke vom Schrottplatz werden, nach einem strengen
gestalterischen Konzept, zu kühlen ästhetischen Arrangements
im Sinne des Konstruktivismus zusammengefügt. Die Fundstücke
werden zu diesem Zweck zersägt, auseinander genommen und völlig
überarbeitet. Denn wie bei seinen Provenceimpressionen geht
es Friedel Lienert auch bei diesen Arbeiten um die Sichtbarmachung
des Lichtes. Die Metallteile werden daher glatt geschliffen und
poliert. Die Oberfläche wird schließlich durch einen
abschließenden Schliff fein strukturiert, erhält sozusagen
einen "Strich", durch den sich unterschiedliche Lichtbrechungen
ergeben.
Es scheint, als habe sich im Werk Lienerts im Laufe der 90er Jahre
eine verstärkte Hinwendung zum Thema des Lichtes in der Kunst
vollzogen. Vielleicht wurde dies durch den Kontakt mit dem Süden
hervorgerufen, der ja bekanntlich auch Van Goghs Palette zum Leuchten
brachte. Voraussetzung ist jedoch immer eine innere Bereitschaft
für die Offenbarung des Lichtes und diese scheint Friedel Lienert
in vollem Umfang zu besitzen, so dass auch seine folgenden Werke
sicherlich von diesen neuen Erfahrungen geprägt sein werden.
1997 hat er die Seitenkapelle der Auferstehungskirche in Rüsselsheim
gestaltet. Er entwarf und bearbeitete größtenteils eigenhändig
das Tabernakel und die Halterung für das Ewige Licht. In dem
gleichfalls von ihm gestalteten Fenster zum Kirchenraum geht es
um das Leuchten der Auferstehung. Ausgehend von einem weißen
Stern in der Mitte des Fensters wird das Licht in seine Spektralfarben
gebrochen, .links in Richtung Blau und rechts in Richtung Gelb.
Nichts anderes als die Brechung des Lichtes in seine Spektralfarben
hatten die Maler des Orphismus im Sinn, als sie sich der Verwendung
der reinen Farben verschrieben. Vielleicht strahlen gerade deshalb
die Gemälde August Mackes, der im Alter von 27 Jahren im ersten
Weltkrieg gefallen ist, eine solch festliche, beinahe überweltlich
zu nennende Heiterkeit aus.
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